19. März 2018

Der Tod des Flaneurs

Der Tod des Flaneurs

Der Flaneur ist entradikalisiert. Mit der Veröffentlichung des Discovery Mode für Assassin’s Creed Origins im Februar hat sich der Status des Flaneurs im Computerspiel grundlegend verändert. Angefangen hat diese Veränderung schon mit anderen Spielen einige Zeit früher, mit Origins aber hat sie nun den Mainstream erreicht. Um diese Entwicklung nachzuzeichnen, muss der Begriff des Flaneurs zunächst kurz beleuchtet werden.

Rue de Paris, temps de pluie. Gustave Caillebotte, 1877

Flanieren findet innherhalb einer urbanen Umgebung und zeichnet sich durch eine von der restlichen Menschenmasse abgegrenzte Beaobachterposition aus. Der Flaneur durchwandert diese Umgebung ohne ein bestimmtes örtliches Ziel, sondern in der Absicht, ästhetische Beobachtungen vorzunehmen. „In der Tat verkörpert der Flaneuer in seinem Verhalten die von den Intellektuellen der französischen Romantik empfundene radikale Ablehnung der industrialisierten und stark funktionalisierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.“ Baumgartner, Robert; Der Flaneur im Computerspiel. Flanieren kann so durchaus als subversive Handlung begriffen werden, die den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Erwartungshaltungen entgegengesetzt ist.

Übertragen auf die Tätigkeit des Computerspielens rückt zuallererst das Ignorieren der ständigen Handlungsaufforderungen in den Fokus. In GTA wären das beispielsweise das Halten an der roten Ampel, das Wegdrücken der Benachrichtigung des um Hilfe bittenden Geschäftsführers des aufgekauften Taxiunternehmens oder das Ignorieren der vielen zufälligen Begegnungen mit verrückten Individuen auf den Straßen von Los Santos. In Assassin’s Creed, Watchdogs oder The Witcher 3 ist es üblicherweise das Übersehen der Vielzahl an farblich unterschiedlichen Symbolen auf der bildschirmfüllenden Übersichtskarte oder auf der Minimap selbst. In ihrer Summe verweisen diese Marker auf Themenparkwelten, innerhalb derer man anscheinend stets zufällig in die nächste Attraktion stolpert, die keine Nichthandlung zulässt. Nach dieser Beschreibung ist der Flaneur folglich ein hart arbeitendes Individuum, denn sein Handlungsfreiraum ist im Computerspiel von vornherein stark eingeschränkt, selbst in auf den ersten Blick vor Freiheit strotzenden Simulationen wie z.B. GTA V. Aus zwei verschiedenen Blickwinkeln wird die Subversivität des Flaneurs besonders deutlich. 1. Muss der Flaneur die hartnäckigen Versuche der Spielwelt ihn zum programmkonformen Handeln zu bringen permanent abwehren, 2. erarbeitet sich der findige Flaneur für bestimmte Spiele passende Mods, die die störenden Handlungsaufforderungen gleich ganz entfernen. So gibt es beispielsweis für Alien: Isolation eine Mod, die das Alien einfach unbeweglich im Lüftungsschacht versauern lässt, während die Spielenden die liebevoll und äußerst detailreich gestaltete Spielwelt erkunden können. No Enemies on Sevastopol

Attraktionen an jeder Ecke in GTA V.

Robert Baumgartner zufolge ist unter anderem die urbane Umgebung eine der zentralen Voraussetzungen für das Flanieren im Computerspiel. Ist aber nur in Spielen, die eine mehr oder weniger glaubhafte Simulation eines städtische Milieus bieten das Flanieren möglich, oder lassen sich nicht vielmehr bestimmte Qualitäten dieses Milieus auf die begrenzten Spielwelten anderer Spiele übertragen? So lassen sich zumindest in Spielen wie z.B. Eve Online städtisch soziale Charakteristika relativ einfach verorten, obwohl dort keine weltlich reale Version urbaner Umgebung simuliert wird. Es ist also zu überlegen, ob das Prinzip des Flanierens – das von vorherrschenden Handlungsweisen sich abgrenzende Beobachten (und vielleicht Erkunden der die eigene Person umgebene Welt) – nicht von bestimmten Computerspielen zum zentralen Spielprinzip gemacht wird.

Spiele wie Dear Esther, Gone Home oder The Stanley Parable verbindet eine Spielerfahrung des Erkundens und Erfahrens. Bei Computerspielen dieser Art sind Spielende von vornherein schon immer Flaneur: das langsame Durchschreiten der Spielwelt, das kontemplative Betrachten der sich auftuenden Szenerie. The Stanley Parable ist hierbei gleichzeitig als Sonderfall zu betrachten, da das Spiel die Subversivität des Flanierens zum Spielprinzip macht und zugleich diese in anderen Spielen als subversiv erfahrene Handlungsweise plakativ als Programm-immanent entlarvt und damit unterläuft. In Spielen wie GTA V spielt der Flaneur sein eigenes Spiel, wie zum Beispiel das Einhalten der Verkehrsregeln. Diese selbst gestellte Aufgabe wird durch die digitale Tastatursteuerung besonders während der Fahrt mit den zahlreichen leistungsstarken Vehikeln immens erschwert und führt früher oder später zurück zur Normalität: straffreies Rasen. Wendet er aber in The Stanley Parable denselben Kniff an, und geht durch die rechte anstatt durch die linke Tür, folgt er bereits schon immer einem vorherbestimmten Pfad. Bekannte und ausdauernd eingeübte win/lose-Konditionen fallen zumeist vollständig weg und erfordern so die Entwicklung neuer Handlungsweisen, die das Potential haben, die Handlungsanweisungen dieser Flaniersimulationen aufzubrechen.

Game Designer haben also schon länger erkannt, dass viele Spielende das kontemplative Moment in Computerspielen zu schätzen wissen und so werden immer mehr Spiele verfügbar, in denen das Flanieren zu einer der hauptsächlichen Aufgaben wird. Auffällig ist dabei die scheinbare Doppelnutzung von Spielen. Die Entwickler von Soma haben im Dezember 2017 ihrem Spiel z.B. einen Safe Mode spendiert, der es ähnlich der Mod für Alien: Isolation erlaubt, ungestört durch die Spielwelt zu spazieren. Der Discovery Mode in Assassin’s Creed Origins hingegen setzt ganz andere Maßstäbe und katapultiert den Flaneur mitten in den Mainstream.

Flanieren ist Arbeit.

Mit dem Ziel, dass das antike Ägypten nicht langweilig wird, bietet der Erkundungsmodus eine Fülle von museumsähnlichen Führungen zu verschiedenen historischen Themenbereichen an. Die Spielenden folgen dabei einer goldenen, nah über dem Boden schwebenden Linie und arbeiten nach und nach die vorgegebenen Stationen ab. An jeder Station einer Führung startet ein Voiceover mit Informationshäppchen; zuweilen werden Fotografien von Expeditionen oder anderen Artefakten gezeigt. Positiv sticht die Entscheidung der Entwickler heraus, auf Designentscheidungen bezüglich der Spielwelt einzugehen. So wird erläutert, wieso die Grabmäler der Pyramiden für die Spielenden zugänglich sind, obwohl sie das zur dargestellten Zeit in dieser Form höchstwahrscheinlich nicht waren. Glücklicherweise wird die harte Arbeit in bester Manier belohnt: jede absolvierte Station wird penibel abgehakt und am Ende jeder Führung wird die erfüllte Aufgabe durch die bekannte pathetische und den ganzen Bildschirm in leuchtendes Gold tauchende Einblendung der Errungenschaft gefeiert. Der Flaneur hat es sich schließlich verdient.

Zugegeben: man kann die Museumsführungen auch links liegen lassen und die entsprechenden Wikipediaartikel zu Rate ziehen. Tut man das, eröffnet sich einem die Spielwelt als durchaus interessante Kulisse. Mit dem Segelboot den Nil befahren, durch die Straßen Alexandrias oder Memphis gehen, entlegene Oasen oder Dörfer besuchen und den Bewohnern bei der Arbeit zusehen; all das ist entspannt möglich, denn weder von wilden Tieren noch von anderen Menschen geht Gefahr für das eigene Leben aus. Was aber in der Herleitung über Dear Esther usw. und besonders durch die oben zugespitzte Beschreibung der kuratierten Inhalte deutlich wird, ist, dass spätestens mit Assassin’s Creed Origins das Flanieren selbst zur Handlungsaufforderung geworden ist. Die Subversion wurde dem Flaneur wie der Teppich unter den Füßen weggezogen und er selbst als Konzept in den Spielraum inkorporiert. Vorbei scheint die Zeit des eleganten Widerstands.

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